Wo haben sich die Pilze versteckt?
Für die meisten Menschen ist es ein Highlight, wenn sie auf dem Waldspaziergang ein Reh oder einen Hasen gesehen haben. Doch wie ist das mit den waldbildenden Bäumen, den Pilzen auf Holz oder den Kräutern am Wegesrand?
Hast du schon einmal gehört: „Heute war ich im Wald unterwegs und da hab ich jede Menge Rotbuchen gesehen, an einer war sogar ein Zunderschwamm und mein Wanderweg war komplett bewachsen mit Breitwegerich.“ ???
Also mir begegnet so ein Satz nur in den seltensten Fällen. Bei Fuchs, Hase und Co. hingegen wird freudig über die Beobachtung berichtet, das Grün das einem im Wald umgibt gerät allerdings oft in den Hintergrund. So ungewöhnlich ist das nicht, denn unter uns Menschen ist die Pflanzenblindheit weit verbreitet – eigentlich eine harmlose Wahrnehmungsproblematik die man mit Zeit und aufmerksamen Spaziergängen heilen kann. 😉

PFLANZENBLINDHEIT
Geprägt wurde der Begriff bereits 1998 in einer Veröffentlichung von James H. Wandersee und Elisabeth E. Schussler. Vor allem steht der Begriff für das Nicht-Wahrnehmen von Pflanzen in der Umgebung. Aber auch dafür, dass ihre ökologische Bedeutung untergeht und Tiere den Pflanzen übergeordnet behandelt werden. Tiere werden eher als Lebewesen wahrgenommen und respektiert als Pflanzen. (Wandersee u. Schussler 2001)
In ihrer Studie von 1998 stellten Wandersee und Schussler fest, dass nur ca. 7% der fast 300 Schüler*innen Interesse bekundeten sich nach der schulischen Ausbildung wissenschaftlich mit der Botanik auseinander zu setzen. (Wandersee u. Schussler 2001)
WICHTIG: Es handelt sich somit nicht um eine „echte“ Erkrankung. Der Begriff greift die fehlende visuelle Wahrnehmung auf und setzt diese ein, um auf die oben genannten Beobachtungen aufmerksam zu machen. Der Symbolcharakter steht an dieser Stelle im Vordergrund !!!
Auf der Suche nach den Ursachen ...
Über die Ursachen dieser Wahrnehmungsproblematik gibt es viele Diskussionen. Das der Mensch Pflanzen aus biologischen Gründen schlechter erfassen kann, wird vor allem durch die selektive optische Sinneswahrnehmung bestärkt. Der Homo sapiens hat u.a. beim Verbessern seiner Jagdfähigkeit und der visuellen Identifikation von Gefahren den Sehsinn auf Objekte fokussiert, die sich bewegen können. So kann eine Beute oder auch gefährliche Tiere leichter erfasst werden. Ebenso sind es bunte Farben die den Menschen besonders gut ansprechen. Eine rötliche Himbeere fällt uns wahrscheinlich schneller auf, als die ebenfalls essbaren, grünen und kleinen Brennesselsamen. Allen (2003) fast zusammen, dass es somit vor allem Bewegung, Farben, gefährliche und bekannte Objekte sind, die von unserem Gehirn bei der Informationsverarbeitung besonders berücksichtigt werden.
Liegt es also in unserer Natur, dass Pflanzen uns weniger interessieren?
Vermutlich spielt auch die Urbanisierung und unsere kulturelle Entwicklung bzw. kulturelle Unterschiede eine große Rolle. Der direkte Kontakt zu Pflanzen in unserem Alltag wird immer weniger und somit verlieren wir sie aus den Augen, grenzen uns von ihnen ab und ihre Bedeutung sinkt. (BBC.com 2022; Thomas et al. 2020)
Was auch immer der Grund nun sein mag, wenn du Lust hast die Natur in deiner Umgebung besser wahrzunehmen, dann kann ich dich beruhigen. Mit Übungen und Zeit wirst du die Schwierigkeiten deiner optischen Selektion umgehen können.
Und Pilzblind sind wir auch noch ...
Doch was ist jetzt mit den Pilzen?
Genau wie Pflanzen sind Pilze eher unbeweglich und (lebende 🙂 ) Menschen stehen auch nicht auf ihrem Speiseplan. Der größte Teil des Pilzes lebt im Verborgenen ,mitunter im Holz oder im Boden. Durch die Bildung von Fruchtkörpern wird der Pilz für uns besser sichtbar. Doch auch dann sind nicht alle Pilz-Fruchtkörper so bunt wie ein Fliegenpilz – den sicher die meisten von uns ohne Probleme erkennen können (schon allein deshalb ist er doch ein wahrer Glückspilz!). Die Farben der meisten Pilze vermischen sich hingegen mit der Umgebung und der Pilz bleibt für viele von uns gut versteckt und ungesehen.
PILZBLINDHEIT
„Pilzblindheit“ ist ein Symbolbegriff der bisher kaum geprägt wurde. Ich konnte dazu leider keine Untersuchungen oder Studien finden. Jedoch gibt es aus meiner Sicht sehr viele Parallelen zu den Ausführungen aus der Botanik. Ich finde, der Begriff „Pilzblindheit“ hat durchaus seine symbolische Berechtigung, um auf die sinkende Artenkenntnis und die geringe Bedeutung von Pilzen aufmerksam zu machen.
Teste deine Artenkenntnis: Wie viele Pilze auf dem Bild rechts kannst du erkennen? Auf deine Antwort in den Kommentaren bin ich sehr gespannt. Die Lösung findest du , wenn du ein Bild weiter klickst!


3 TIPPS wie du deine Wahrnehmung von Pilzen verbessern kannst …
1. Raus gehen und Ausschau halten:
Trainiere deine Augen und beobachte deine Umgebung ganz bewusst.
Nimm dir Zeit und untersuche nur eine kleine Stelle.
2. Werde kreativ:
Bastel doch mal mit Naturmaterialien.
Aus Trameten kannst du zum Beispiel Schmuck herstellen oder aus Tintlingen lässt sich Tinte gewinnen.
3. Zeichnen:
Such dir einen Pilz (egal ob du schon weißt, wer es ist).
Versuche alle Merkmale in einer Skizze festzuhalten und notiere dir, was dir sonst noch so auffällt
z.B. wie der Pilz riecht.
*Die Tipps lassen sich übrigens gut auf alle biologische Gruppen übertragen, die in unserem Alltag oft untergehen!
Wen ich nicht kenne, den schütze ich nicht!
Laut Allen (2003) führt besonders der Verlust der Wahrnehmung von Pflanzen in unserer Umgebung dazu, dass deren Wert und auch unser Bewusstsein sie zu schützen sinkt. Übertragen wir dies auf weitere Organismen-Gruppen ist es eine Katastrophe für die Gesundheit unserer Umwelt – insbesondere mit dem Blick auf eine Zeit in der von einem sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte gesprochen wird und mehr als 1 Millionen Arten vom Aussterben bedroht sind !!!! (Spektrum.de 2022; Geo.de 2022)
Wandersee und Schussler (2001) sehen nicht nur im schwindenden Interesse ein Problem, sondern auch darin, dass ganze Forschungsbereiche ihre Legitimation und die Unterstützung der Bevölkerung verlieren könnten.

Lerne Neues und begeistere andere
Zwei besondere Faktoren sind es, die uns dabei helfen können unsere Wahrnehmung zu verbessern. Die Steigerung der Aufmerksamkeit und die Steigerung der Bedeutung und persönlichen Wichtigkeit. Erreicht werden kann dies durch eine sinnvolle und achtsame Aufklärung z.B. durch Mentor*innen und durch eigene, direkte Erfahrungen. Auf dieser Grundlage habe ich dir über diesem Absatz drei Tipps zusammen gestellt.
Vor allem wenn du dich noch mehr mit Pilzen auseinander setzen möchtest und dabei auf der Suche nach Mentor*innen bist, dann schau doch mal, ob es bei dir in der Nähe eine*n PilzCoach oder ein*e Pilzsachverständige*n der Deutschen Gesellschaft für Mykologie gibt. Vielleicht wirst du HIER fündig und kannst an einer Pilz-Wanderung oder kreativen Aktionen teilnehmen.
Egal ob „Pflanzenblindheit“ oder „Pilzblindheit“ – sicherlich lässt sich die Bezeichnung noch auf weitere biologische Gruppen ausweiten, um den symbolischen Wert des Begriffs zu Nutzen. Denn zahlreiche Studien zeigen einen generellen Schwund an Artenkenntnis und Wissen über Organismen.
Quellen zum Nachlesen:
Allen, W. (2003) Plant Blindness. BioScience Vol. 53 No.10: 926; https://doi.org/10.1641/0006-3568(2003)053[0926:PB]2.0.CO;2
Wandersee, J.H.; Schussler, E.E. (2001) Toward a Theory of Plant Blindness. Plant Science Bulletin Vol. 47 No.1: 2-8
Thomas, H.; Ougham, H. u. Sanders, D. (2022) Plant blindness and sustainability. Journal of Sustainability in Higher Education Vol.23 No.1: 41-57; https://doi.org/10.1108/IJSHE-09-2020-0335
https://www.bbc.com/future/article/20190425-plant-blindness-what-we-lose-with-nature-deficit-disorder (Stand: 18.05.2022)
https://www.bbc.com/future/article/20190425-plant-blindness-what-we-lose-with-nature-deficit-disorder (Stand:18.05.2022)
https://www.mdr.de/wissen/umwelt/pflanzenblindheit-gefaehrlich-aber-heilbar-100.html (Stand: 19.05.2022)
https://theconversation.com/people-are-blind-to-plants-and-thats-bad-news-for-conservation-65240 (Stand: 19.05.2022)
https://www.spektrum.de/news/erdgeschichte-das-sechste-massenaussterben/1889650 (Stand: 19.05.2022)
https://www.geo.de/natur/nachhaltigkeit/21267-rtkl-un-report-eine-million-arten-betroffen-das-sechste-massenaussterben (Stand: 19.05.2022)
https://theconversation.com/people-are-blind-to-plants-and-thats-bad-news-for-conservation-65240 (Stand: 17.05.2022)